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Die Karte ist im Kopf

Ulrich Becker

„Autoperformance“: Ein weibliches Gesicht taucht auf, das fotografische Porträt der Künstlerin, in sanfter Weichzeichnung. Es verspricht dem Auge ein ungetrübtes Seherlebnis und duldet keine Verletzung, auch nicht in effigie.


Und doch muss es mit harter optischer Konkurrenz um den Löwenanteil an Aufmerksamkeit ringen. Eine Karte schiebt sich über die „Rosendiebin“, so ist die Porträtierte hier benannt, oder ist dem Porträt unterlegt: Es ist ein schon sehr fernes historisches Dokument. Styriae Ducatus Fertilissimi Nova Geographica Descriptio, geschaffen von Georg Matthäus Vischer im Jahr 1678, eine mit den Mitteln der Kartografie verfasste Lobrede auf die Fruchtbarkeit des alten Herzogtums Steiermark.


Ein schroffer Bruch in der Betrachtung, so mag man meinen: Die Züge eines Gesichts zu lesen ist ein grundsätzlich anderes optisches Verhalten, als den schwarzen Linien einer Karte zu folgen und damit seine eigene kleine „Vermessung der Welt“ vorzunehmen. Und doch teilen sich Porträt und Karte ein zentrales Wesensmerkmal, das die Karte in barock-umständlichem Gelehrtenlatein im Namen trägt: die Beschreibung. Also doch eine Vermessung. Ob nun einfühlendes Sehen oder prosaische Beschreibung: beides findet im Kopf statt. Mögen zwischen einer mit Details und allerlei Illusionen gespickten Landesaufnahme aus ferner Vergangenheit und dem Gesicht eines Menschen der Gegenwart Welten liegen, beide finden im Bild zusammen.


Und: Der Geograf und der Porträtist teilen eine grundsätzliche Maxime: Kunst ist Kopfarbeit: Ein weitaus berühmterer Zeitgenosse Vischers, der Großmeister des italienischen Barock, Gian Lorenzo Bernini, wusste um diesen Zusammenhang, als er eine Lobrede auf einen nicht minder berühmten Zeitgenossen, den französischen Maler Nicolas Poussin, hielt: Sich auf die Stirn tippend, soll er gesagt haben, Poussin sei einer, der mit dem Kopf male: „chi dipinge di là“.


Wer schaut nicht gerne hin, wenn er Karten sieht, auch wenn er ihrer im Augenblick nicht bedarf: Karten fordern zur Lektüre auf, laden zur „Weltkenntnis“ ein, wie es in der Vergangenheit hieß. Auf das Auge üben sie eine bestrickende Wirkung aus, damals wie heute; sie sind eine gedruckte Theatervorstellung, aber keine bloße Unterhaltung, sondern Weltdeutung. Mit einem Schwulst von Allegorien und Symbolen überfrachtet, auf einer unendlich großen Bühne angesiedelt, mit einem Heer von Schauspielern, Haupt- wie Nebenrollen, vor immer wieder variierten Kulissen. Nicht von ungefähr erlebt die Kartografie ihre erste große Blüte in der Frühen Neuzeit, deren Denken und Handeln durchweg theatral war. Alles ist Schauplatz, will betrachtet, bewundert, aber auch reflektiert werden, sei es der Krieg oder der ganze Kontinent, der von Kriegen mehr als erfüllt war: Theatrum Belli, Theatrum Europaeum. Alle wussten: Wir sind auf Bühnen gestellt, aller Welt zum Angesicht.


Von Anfang an ist die Karte mehr als ein bloßes Hilfsinstrument gewesen, das sich der Mensch ausgedacht hat, um in der Natur zurechtzukommen, um in einer nicht selten feindlichen Welt seinen Platz zu finden und diese dann Zug um Zug beherrschen zu lernen. Klar: Karten sind nicht nur Instrumente persönlicher Orientierung, mit der man durch die Welt finden will, sie sind auch Zeugnisse der Macht, die imponieren will und sich Denkmäler schafft, seien es gebaute, gemalte oder eben gedruckte.


Und womit kann man besser repräsentieren als mit technischer Perfektion, im langen Zeitalter des Zirkels, den man erst in der Hand Gottes wusste, dieser aber dann doch entwand, um selbst Schöpfer zu sein. Der Mann mit dem Zirkel und seine Schöpfung: Die Karte, dieser papierene, zusammenzurollende oder auf eine Kugel zu projizierende Kosmos, der dann Globus heißen sollte. Er, der scheinbar grenzenlosen Raum abbildete, sollte feierlichen Einzug in große wie kleine Räume halten, in kleine Gelehrtenkabinette, die in der Renaissance Studioli hießen, oder in die großen Bibliotheken von Klöstern und Stiften, wo seine das Monumentale mehr als streifende Gestalt außer dem obligaten Schöpferlob eine dazu passende, nicht weniger imponierende Botschaft bereithielt. Dies alles ist mir untertänig …


Mindestens zweimal existiert jede Karte, die wir zu sehen bekommen: Zum Ersten auf dem Papier, sodass sich nicht nur ein grafisches Dokument vor unseren Augen auftut, sondern sich ein echtes Kunstwerk vorstellt, entstanden aus dem Geist der Präzision. Warum sollte ein Kartograf nicht auch Grafiker, ja Künstler genannt werden, finden doch Kunstfertigkeit und inhaltlicher Anspruch zusammen, gehen Handwerkliches wie Intellektuelles eine sinnlich erfahrbare Symbiose ein.


Da ist sie wieder, die ersehnte Rolle des frühneuzeitlichen Menschen: die klassische Schöpferrolle, die jedoch nicht in genialischer Einsamkeit verharrt, sondern schon auf das Verfahren moderner Arbeitsteilung setzt. Das Kunstwerk ist längst ins Stadium seiner Reproduzierbarkeit eingetreten, bevor die Fotografie nach der Herrschaft greift. Um Grafik zu produzieren, bedarf es mehrerer Köpfe und Hände: Delineavit – hat es gezeichnet, sculpsit – hat es gestochen; excudi – hat es verlegt.


Zum Zweiten lebt die Karte im Kopf weiter, prägt sich Gedächtnis ein wie eine Spur, aus der Erfahrung des Messvorgangs wie in den Kopf geworfen. Die Erinnerung nimmt Grundzüge vorweg, die das ermöglichen, was man gemeinhin Orientierung nennt. Doch will alles, was erfahren wird, auch belegt werden, um jeden Irrtum, jede Desorientierung auszuschließen – dazu verhilft der versichernde Blick auf die Karte. Mit dem prüfenden, dem Gedächtnis zu Hilfe eilenden Blick fügt sich die zunächst noch im Ungefähren verharrende, vage Vorstellung des Wo und Wohin zu einem verlässlichen Bild, wird zu einem gangbaren Wegesystem, eben der kartografisch begründeten Projektion. Das Auge, das sich zunächst vorgetastet hat, wird zum beherrschenden Organ, das über die Erfahrung die Erkenntnis befördert und Sicherheit stiftet. Der Triumph der Empirie. Nicht von ungefähr ist in der Frühen Neuzeit der Sehsinn, visus, als der vornehmste aller fünf Sinne angesehen worden.


Der Kopf ist in der Karte

Anthropomorphe Bilder – anthropomorphe Karten. Bild und Karte finden schnell zueinander, denn längst ist uns klar, dass Karten nicht objektive Wiedergaben, sondern höchst eigenwillig konzipierte Projektionen, im Wortsinne Kopf-Arbeiten, sind.


Und die Köpfe, Bestandteile von Gesamtorganismen, sind selbst Körper und auf ihre Weise bildwürdig im Spiegel der kunstgeschichtlich festgeschriebenen Gattung des Porträts: Sie weisen Höhen und Tiefen auf, wie bei Landschaften liest man „Züge“ heraus. Dem ebenso umstrittenen wie schon von der Geschichte „geheiligten“ Verfahren der Physiognomik getreu verdichtet sich diese Lektüre zur Analyse von Typen- oder Charaktereigenschaften. Worte wie „hart“ oder „lieblich“ werden ebenso auf Gesichts- wie Landschaftszüge angewandt, Haupthaar und Augenbrauen könnten dabei fast als Bewaldung durchgehen; Augen, wie „unergründlich“ in die Gesichtslandschaft gesenkt, muten wie glänzende Gewässer an, hinter deren glänzender Oberfläche sich eine Tiefe verbirgt. Der Kopf ist in der Karte, aber nicht nur das, er wird selbst zu einer Karte mit Haupt- und Nebenwegen. Doch ist Vorsicht geboten: Die Lektüre solcher Karten jenseits der Kartografie ist von großem Reiz, aber nicht ohne Risiken für die Sicherheit der scheinbar gewonnenen Erkenntnis, nur allzu leicht kann die Charakterlektüre dabei auf Abwege führen.


Es ist die Künstlerin selbst, die ihren eigenen Kopf den kartografischen Projektionen unterlegt. Der Kopf der Künstlerin hat dann auch alles Recht der Welt, als Sitz der Reflexion und des Gedächtnisses selbst ins Bild zu gelangen, doch nicht in Konkurrenz zu der Karte und ihrer aus feinen Linien bestehenden Struktur, sondern in einer Symbiose damit, einer Symbiose, die den Kopf ebenfalls zu einem grafischen Gebilde werden lässt. Der Kopf, das unterlegte Selbstporträt, erscheint selbst „kartiert“. Zumal Kartografie und grafisch simulierte Plastizität im Zeichen der Höhenlinien zueinander finden.

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